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Schützen & Erhalten · September 2019 · Seite 18 halbstaatliche Gesellschaft, nämlich ein gemeinnütziges Unternehmen für die Entwicklung des ländlichen Raumes. Ihre Firma enthält das Wort „Niedersächsisch“; im Briefkopf ist ein(e) Minister(in) als Vorsitzende(r) des Aufsichtsrates benannt. So vermittelt die Klägerin den Anschein von Serio- sität und Verlässlichkeit. Angesichts der vielfältigen Geschäftsbeziehung der Parteien waren Honorare im unteren Preissegment der HOAI nicht fernliegend; dies rechtfertigte aus objektiver Sicht auch die Vereinbarung von Pauschalhonoraren. Unstreitig haben die Schlussrechnungen der Klägerin aus den Jahren 2010 bis 2014 die vereinbarten Honorarabreden widergespiegelt, indem sie sich in der vereinbarten Größenordnung verhielten. Deren Prüffähigkeit stand nie im Streit. Die Beklagte zu 1) hat sie unstreitig vollständig beglichen. Es ist von der Klägerin nicht vorgetragen worden und auch nicht ersichtlich, dass bzw. anhand welcher Umstän- de sich der Beklagten zu 1) eine Mindestsatzunterschreitung durch die getroffenen Vereinbarungen und vorgenommenen Abrechnungen aufdrängen musste. Insbesondere hat die Klägerin nicht dargetan, dass Kon- kurrenzangebote zu ihren Leistungen erheblich teurer ausgefallen waren. Die Beklagte zu 1) durfte deshalb annehmen, sie habe mit der Klägerin verbindliche Honorare vereinbart. bb) Die Klägerin hat schon nicht nachvoll- ziehbar dargelegt, ihre ursprüngliche Abrechnung liege deutlich unter den Mindestsätzen der HOAI (siehe oben unter Ziffer 2.). cc) Mit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 4. Juli 2019 in dem Vertragsverletzungsverfahren ist die Verbindlichkeit des HOAI- Preisrechts überdies hinfällig gewor- den. Die Mindest- und Höchstsätze der HOAI sind europarechtswidrig. Wegen des Anwendungsvorbehaltes des Europarechts sind die Gerichte nach Auffassung des Senats verpflichtet, ab sofort die für europarechtswidrig erklärten Regelungen der HOAI nicht mehr anzuwenden [vgl. auch Stel- lungnahme des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie vom 4. Juli 2019, Az. I B6-20614/001; Steeger/ Fahrenbruch, Praxiskommentar HOAI 2013, online-Fassung IBR, Stand 15. Juli 2019, § 7 HOAI Rn. 2/1 m. w. N.]. Die Entscheidung des EuGH C-377/17 ist auch in laufenden Verfahren umzusetzen. Da der EuGH für alle Mitgliedstaaten verbindlich das Recht der Europäischen Union auslegt, gilt eine davon betroffene Norm nur nach Maßgabe des Rechts der Europäi- schen Union, so wie sie durch die im EuGH-Urteil verkündete Auslegung zu verstehen ist, in allen Mitgliedstaaten [ebenso Steeger/Fahrenbruch a. a.O.]. Diese für die nationalen Gerichte bindende Auslegung des EU-Rechts wirkt sich auf bestehende Vertrags- verhältnisse aus, wenn dort – wie vorliegend – in Abweichung des vereinbarten Honorars unter Bezug auf den HOAI-Preisrahmen ein Honorar in diesem Rahmen durchgesetzt werden soll. Demnach sind Honorarvereinbarungen nicht deshalb unwirksam, weil sie die Mindestsätze der HOAI unterschreiten oder deren Höchstsätze überschreiten. Infolge der EuGH-Entscheidung vom 4. Juli 2019 ist es von Rechts wegen nicht mehr zulässig, getroffene Honorar- vereinbarungen an den Mindest- und Höchstsätzen der HOAI zu messen. Honorarvereinbarungen, die das Preisrecht der HOAI ignorieren, sind daher unter diesem Gesichtspunkt nicht mehr unzulässig [so auch Steeger/ Fahrenbruch a. a. O.]. (cc) ...) dd) Ferner spricht der Zeitablauf für eine Bindung der Klägerin an ihre ursprünglichen Schlussrechnungen. Die Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung vom 25. Juni 2019 un- bestritten vorgetragen, die ursprüngli- chen Schlussrechnungen der Klägerin stammten aus dem Zeitraum von 2010 bis 2014. Mit Schreiben vom 29. Dezember 2016 (Anlage K 8, Bl. 141, 142 d. A.), und damit zwei bzw. bis sechs Jahre später, machte die Klägerin erstmals ihr Nachforderungsverlangen in einer Größenordnung von zunächst 638.160,01 EUR geltend, die sie im Klageverfahren auf 441.004,89 EUR reduziert hat. Das stellt einen namhaf- ten Zeitablauf dar, indem eine Firma, die ihre Zahlungsverpflichtungen vollständig erfüllt hat, üblicherweise nicht mehr mit einer Nachforderung rechnet und dies auch nicht muss. ee) Die Klägerin hat Vertrauen der Beklagten in die Korrektheit und Verbindlichkeit der vertraglichen Gestaltung und der Abrechnung der getroffenen Vereinbarungen geschaffen. Die Parteien waren durch eine Mehrzahl von Verträgen mitein- ander verbunden. Die Klägerin war erfahren im Bau von Biogasanlagen, was impliziert, dass sie hinsichtlich der vertraglichen Leistungen, aber auch bezüglich der Abrechnungspraxis kompetent war. Sie unterlag der Kontrolle eines Aufsichtsrates, dem ein(e) Landesminister(in) vorsitzt. Gegen die Vertrauensbildung auf Seiten der Beklagten spricht auch nicht der Umstand, dass der Streithelfer zu 2) in Personalunion mit der Klägerin gehandelt hat. Denn das Vertrauen in die Person des Streithelfers zu 2) galt zunächst grundsätzlich für beide Seiten. Auf Seiten der Klägerin waren aber noch andere Entscheidungsträger und der Aufsichtsrat in die Vertrags- abwicklung eingebunden, was die Bedeutung des Streithelfers zu 2) im Hause der Klägerin deutlich schmälert. ff) Es ist evident, dass eine Nachforderung FACHBEREICHE I SACHVERSTÄNDIGE Foto: Marian Vejcik/123rf.com

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