S&E Glossary
Fachbereiche Bautenschutz Ein weiter Gang − persönliche Entwicklung Wolfgang ist ein Kind der 50-iger: „Durch eine Laune des Schicksals − die Amis wollten einen Teil von Berlin und haben dafür ihren östlichen Teil des Vorharzes an die Russen verschachert, bin ich im Sozialismus aufgewachsen.“ Als Harzer Roller wurde Wolfgang sozialistisch erzogen, war erst Jung-, später Thälmann-Pionier und auch FDJ- ler. „Auf die Zugehörigkeit zu den Pionieren war ich sehr stolz, da Pioniere immer helfen.“ Hilfs- bereit ist er, unser Wolfgang. Er wollte Geld ver- dienen, um seine Mutter zu unterstützen. Diese musste damals allein für den Unterhalt der Fa- milie sorgen. „Meine Oma, väterlicherseits, unter- stützte uns zwar, aber vieles konnte ich mir auch nur dann leisten, wenn ich in den Ferien gearbei- tet habe. Also begann ich beim WBK eine Lehre als Maurer. Mein Pech war, dass ich nicht vor Ort lernen konnte. Die Lehrstelle war in Magdeburg und ich wurde in einem neuen Lehrlingswohnheim untergebracht. Vom Lehrlingsgeld blieb also nicht wirklich etwas übrig. Der Heimleiter konnte nicht mit Jugendlichen umgehen, und so bekam ich von Anfang an Stress, da ich gleich zu Beginn meines Aufenthaltes die Frechheit besaß, meine Meinung zu äußern. Es kam dann dazu, dass ich vom Refe- rat Jugendhilfe unter Mitarbeit des Heimleiters in einen offenen Jugendwerkhof eingewiesen wurde, um diszipliniert zu werden.“ Als der Antrag auf Heimfahrt zur Hochzeit seiner Schwester aus Gründen der Disziplinlo- sigkeit verwehrt wurde, „beschloss ich kurzfri- stig nach dem Abendbrot stiften zu gehen. Mein Freund Harald erklärte sich spontan bereit mitzu- kommen. Wir landeten aber nicht in Wernigero- de, das war zu weit für eine Nacht zum Wandern (von Suckow bei Templin bis Wernigerode sind es ca. 500 km), sondern wir stiefelten eine Woche lang in Richtung Polen. Unser Kapital bestand aus 5,– MDN (in Worten fünf Mark der Deutschen No- tenbank) und einem Päckchen Tabak-Feinschnitt − Sorte Tabakgruß. Aber was soll’s. Wir waren erst mal frei. Wir sind dann im Oderdelta mit einem dort „ausgeliehenen“ Schlauchboot über sämtliche Arme der Oder und über den Hauptfluss am hellen Tag gepaddelt. In Polen wurden wir nach einiger Zeit aufgegriffen und wieder in die DDR gebracht und beaupteten, aus der BRD zu kommen. Nur da suchte man keine zwei männlichen Jugendlichen im Alter von 17 Jahren. Mit der DDR gab es ein Auslieferungsabkommen. Und dort fehlten eben diese zwei Jugendlichen in einem Werkhof. Es folgte eine leerreiche und sinnlos verbrachte Zeit in der Jugendstrafanstalt in Dessau.“ Nach der Entlassung (insgesamt 27 Monate) ging es erneut in das Lehrlingswohnheim. Der Heimleiter war noch immer da. „Daraufhin habe ich mich nach Halberstadt versetzen lassen. Aber nachdem wir auf einigen Baustellen herum ge- schubst wurden, zog ich die Konsequenzen und nach einer kurzen Zeit als Gabelstaplerfahrer in einem Metallveredelungsbetrieb bin ich dann zur DR (Deutsche Reichsbahn) gegangen. Das war mein Leben.“ Wolfgang arbeitete in Wernigerode als Ran- gierer und legte die Prüfung als Rangierleiter ab. Das Glück war nur von kurzer Dauer. Ein Ar- beitskollege, der es mit der Arbeitsmoral nicht so genau nahm, erklärte, als er wegen Arbeits- bummelei verhaftet wurde, dass er gemeinsam mit Wolfgang vorgehabt hätte den so liebge- wonnenen Staat illegal zu verlassen. „So kam es, dass ich wieder vor einem Gericht erscheinen durfte. Diesmal hatte ich Glück, da mein Kollek- tiv als gesellschaftlicher Verteidiger auftrat. So wurde ich nur zu einer Bewährungsstrafe wegen Vorbereitung zur Republikflucht verurteilt.“ Dann zog es ihn nach Neubrandenburg (Me- cklenburg-Vorpommern). Dort wurde geheiratet und erneut als Rangierleiter gearbeitet, bis er aus gesundheitlichen Gründen zum Stellwerksdienst wechselte. „In meiner Freizeit habe ich dann in Erwachsenenqualifizierung die Prüfung zum Fach- arbeiter für Eisenbahntransporttechnik bestanden.“ Danach kam die Qualifizierung zum Fahrdienstlei- ter. Als Fahrdienstleiter kannte er später von den Mechanischen über die Elektromechanischen bis zum Gleisbildstellwerk alle Einrichtungen, „mit denen man Züge in die richtigen Gleise steuern konnte. Und als Dispatcher landete ich in einer po- litischen Abteilung der DR und durfte den Zugver- kehr auf einigen Strecken überwachen.“ Nach der Scheidung seiner ersten Ehe, „die eine 300-tige bis zur Wende war“, erklärte er seinen Austritt aus der Partei. „Den Antrag hatte ich ihretwegen gestellt, damit sie auf der Karriereleiter noch ein Stück weiter klettern konnte. Nach meinem Aus- tritt und einem Ausreiseantrag meiner Schwester war ich politisch nicht mehr tragbar.“ Die Rückversetzung nach Neustrelitz zur Dis- patcherabteilung scheiterte eben am Parteiaus- tritt und dem Ausreiseantrag seiner Schwester. „Ein kleiner Bahnhof bei Neubrandenburg wurde zunächst meine Arbeitsstätte für zweieinhalb Jahre. 1985 im November holte mich der neue Bahnhofsvorsteher von Neubrandenburg dorthin. Jetzt konnte ich auf den größeren Stellwerken ar- beiten. Und wir hatten Arbeit, lagen doch 80 % des Güterverkehrs auf der Schiene.“ Dann kam die Wende. Nie hätte Wolfgang zu dieser Zeit geglaubt, dass es anders kom- men könnte. Aber es kam anders. „Im Nachhi- nein habe ich erfahren, dass, ohne den Fall der Mauer, mein Platz in einem Lager schon gebucht war. Das hat mich dann doch geschockt.“ Er habe sich gewerkschaftlich betätigt, um Kollegen zu helfen mit der neuen Situation fertig zu werden. Diese Arbeit als Gewerkschafter empfand er als unerhört wichtig, zunächst im Personalrat spä- ter im Betriebsrat, bis er feststellte, dass auch bei den Gewerkschaftsbossen „jeder sich selbst der Nächste ist“. Wieder ging ein Stück seines Weltbildes verloren. „Die Bahn war mein Leben. Ihr hatte ich vieles geopfert: Urlaub, freie Tage, Familienleben usw. Aber nun war es aus!“ Wolf- gang kündigte. „Nach der Kündigung habe ich mich gleich selbstständig gemacht. Ich musste, wie so viele, Vieles noch lernen. Aber ganz ehrlich, so richtig habe ich das bis heute nicht geschafft. Darum bin ich auch nicht der Unternehmer. Dazu 1 ITT Firmensitz im mecklenburgischen Cölpin. 2 Technisch auf dem neuesten Stand mit IR-Kameratechnik. 3 Die Wiege der Arbeit: Das Büro von Wolfgang Böttcher. 4 Die gar nicht „Graue Eminenz“, die die Fäden zu- sammenhält und die spätere Nachfolge antreten wird: Wolfgang Böttchers Tochter. 1 3 2 4 Schützen & Erhalten · Juni 2013 · Seite 18
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