Schützen & Erhalten · Dezember 2002 · Seite 20
ARBEITSRECHT
Kündigung aus Anlass bevorstehender Arbeitsunfähigkeit
Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall
Urteil des Bundesarbeits-
gerichts – 5 AZR 2/01 –
vom 17. April 2002
Die Aufrechterhaltung der Ent-
geltfortzahlungspflicht im
Krankheitsfall setzt nicht zwin-
gend voraus, dass die Arbeits-
unfähigkeit des Arbeitnehmers
zum Zeitpunkt des Kündigungs-
ausspruchs bereits besteht. Eine
Kündigung „aus Anlass der Ar-
beitsunfähigkeit“ kann vielmehr
bereits dann vorliegen, wenn die
Arbeitsunfähigkeit objektiv be-
vorsteht und der Arbeitgeber
hiervon Kenntnis hat.
Der Anspruch auf Entgelt-
fortzahlung im Krankheitsfall
wird nach § 8 Abs. 1 Entgelt-
fortzahlungsgesetz (EFZG) nicht
dadurch berührt, dass der Ar-
beitgeber das Arbeitsverhältnis
aus Anlass der Arbeitsunfähig-
keit kündigt. Das Bundesarbeits-
gericht hatte über einen Fall zu
entscheiden, in dem der Arbeit-
geber eine bevorstehende Ope-
ration des Arbeitnehmers zum
Anlass für eine Kündigung ge-
nommen hatte. Das Bundesar-
beitsgericht hat in seiner Ent-
scheidung vom 17. April 2002
deutlich gemacht, dass für eine
Anwendung des § 8 Abs. 1EFZG
nicht erforderlich ist, dass eine
Arbeitsunfähigkeit des Arbeit-
nehmers bereits zum Zeitpunkt
des Kündigungsausspruches
vorliegen muss. Eine Kündigung
aus Anlass einer Erkrankung
liegt nach Auffassung des Bun-
desarbeitsgerichts gleicherma-
ßen bereits dann vor, wenn eine
Arbeitsunfähigkeit aufgrund
sicherer Anhaltspunkte bevor-
steht und noch vor Beendigung
des Arbeitsverhältnisses eintritt.
Dem Urteil sind
folgende Leitsätze zu
entnehmen:
1. Ein Anspruch auf Entgelt-
fortzahlung im Krankheits-
fall setzt das Bestehen ei-
nes Arbeitsverhältnisses zum
Zeitpunkt der Erkrankung
voraus. Bei Erkrankung nach
Beendigung des Arbeitsver-
hältnisses entsteht kein An-
spruch auf Entgeltfortzah-
lung.
2. Die gesetzliche Bestimmung
über die Fortzahlung des Ar-
beitsentgelts bei Kündigung
„aus Anlass“ der Arbeitsun-
fähigkeit soll verhindern,
dass sich der Arbeitgeber zu
Lasten der Sozialversiche-
rung der Entgeltfortzah-
lungspflicht entzieht.
3. Die Kündigung eines Ar-
beitsverhältnisses aus An-
lass der Arbeitsunfähigkeit
mit der Folge der Entgelt-
fortzahlungspflicht setzt
nicht voraus, dass zum Zeit-
punkt des Kündigungsaus-
spruchs bereits Arbeitsun-
fähigkeit vorliegt. Der Ent-
geltfortzahlungsanspruchs
des Arbeitnehmers bleibt
auch dann gemäß § 8 Abs.
1 EFZG erhalten, wenn die
Arbeitsunfähigkeit des Ar-
beitnehmers zum Zeitpunkt
des Kündigungsausspruches
objektiv bevorsteht und der
Anspruch noch während des
Arbeitsverhältnisses ent-
steht.
4. Die Kündigung aus Anlass
einer bevorstehenden Ar-
beitsunfähigkeit setzt die
Kenntnis des Arbeitgebers
voraus. Der Kenntnis des
Arbeitgebers steht es gleich,
wenn dieser mit der Erkran-
kung des Arbeitnehmers si-
cher rechnen musste.
Das Urteil hat
folgende praktische
Auswirkungen:
In seiner Entscheidung
macht das Bundesarbeitsgericht
deutlich, dass auch bei einer
bloß unmittelbar objektiv be-
vorstehenden Arbeitsunfähigkeit
des Arbeitnehmers zum Zeit-
punkt des Kündigungsaus-
spruchs die Regelung des § 8
Abs. 1 EFZG Anwendung findet
und somit der Arbeitgeber über
das Ende des Arbeitsverhältnis-
ses hinaus zur Entgeltfortzah-
lung verpflichtet bleibt.
Das Bundesarbeitsgericht
stellt klar, dass die Arbeitsun-
fähigkeit objektiv bevorstehen
muss. Die bloße Vermutung ei-
ner Arbeitsunfähigkeit ist da-
gegen nicht ausreichend. Auch
die Kenntnis des Arbeitgebers
über ein Grundleiden des Arbeit-
nehmers ist nicht für eine Kün-
digung aus „Anlass einer Erkran-
kung“ genügend, wenn die
Wahrscheinlichkeit, dass sich
dieses Leiden zukünftig zu ei-
ner Arbeitsunfähigkeit auswei-
tet, nicht höher als in frühe-
ren Beschäftigungszeiten ist. In
diesem Fall kann die später ein-
tretende Arbeitsunfähigkeit
nicht Ursache für die Kündigung
sein.
Sofern sicher feststeht, dass
ein Arbeitnehmer zukünftig ar-
beitsunfähig wird, muss sich der
Arbeitgeber bei der Entschei-
dung über eine Kündigung aus
„Anlass der Arbeitsunfähigkeit“
bewusst über eine über das Ende
des Arbeitsverhältnisses hinaus
bestehende Entgeltfortzahlungs-
pflicht sein.
Eine abschließende Ent-
scheidung des Streitfalles konn-
te das Bundesarbeitsgericht
nicht treffen, weil durch die
Vorinstanzen nicht aufgeklärt
worden war, ob bereits am letz-
ten Arbeitstag vor Ablauf der
Kündigungsfrist die Arbeitsun-
fähigkeit eingetreten war. Nach
Auffassung des Bundesarbeits-
gerichts kommt es aber für die
Anwendung des § 8 Abs. 1 EFZG
darauf an, ob der Arbeitnehmer
bereits vor Ablauf der Kündi-
gungsfrist einen Anspruch auf
Entgeltfortzahlung erworben
hatte. Der Rechtsstreit wurde
daher an das Landesarbeitsge-
richt zurückverwiesen.